Veranstaltung: | 53. Landesversammlung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 16 Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | 53. Landesversammlung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Sachsen |
Beschlossen am: | 07.03.2020 |
Eingereicht: | 10.03.2020, 12:16 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Urabstimmungsstatut erneuern, unsichere Online-Abstimmungen abschaffen, elektronische Abstimmungen verbessern!
Beschlusstext
1. Urabstimmungsstatut und Online-Abstimmung
Die Landesversammlung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen beschließt, dass
für Mitgliederbefragungen oder Mitgliederabstimmungen über Personen
ausschließlich die Urabstimmungsordnung Anwendung findet. Der Landesvorstand
wird aufgefordert, bis zur nächsten Landesversammlung einen neuen Entwurf des
Urabstimmungsstatutes mit Regelungen zu Abstimmungen über Koalitionsverträge
vorzulegen. Bis zur Einführung eines bundeseinheitlichen Verfahrens werden
Onlinelösungen ausgesetzt.
2. Einsatz elektronischer Abstimmungsgeräte
Die Landesversammlung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen fordert den
Landesvorstand auf, sich beim Bundesvorstand dafür einzusetzen, innerhalb der
nächsten zwei Jahre eine verschlüsselte und für die Wählenden nachvollziehbare
elektronische Abstimmungsmöglichkeit zu finden. Als Grundlage sollen die von den
Mitgliedern der Netzbegrünung entwickelten Standards für die Sicherheit von
Abstimmungssystemen dienen. Abweichungen sind zu begründen. Nach einem Jahr ist
die Landesversammlung über den Fortschritt des Anliegens zu informieren, nach
zwei Jahren ist es der Landesversammlung erneut vorzulegen.
Begründung
Basisdemokratie ist für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein elementares Gut. In keiner anderen Partei können sich Mitglieder auch ohne Amt oder Mandat so intensiv einbringen wie bei uns. Dies beinhaltet die Mitarbeit in AG’s auf kommunaler und auf Landesebene, die Organisation in Kreis- und Stadtverbänden, auf Landes- und Bundesdelegiertenkonferenzen oder Teilhabe durch Urabstimmungen. Die Möglichkeiten sind vielfältig.
Doch Mitbestimmung zu organisieren ist keine Kleinigkeit. Sie kostet Zeit, Geld und benötigt Umsicht. Zudem muss sich die Partei mit neuen Möglichkeiten der Abstimmung auseinandersetzen. Elektronische Abstimmungsgeräte, wie sie auf unseren Parteitagen eingesetzt werden, sowie Online-Abstimmungen sparen Zeit, die für die Debatte bleibt. Doch unsere Partei muss sich auch mit den Nachteilen befassen, die solche digitalen Abstimmungsmöglichkeiten mit sich bringen. Sie muss abwägen, wie viele Abstriche sie von den Grundsätzen der freien, gleichen und geheimen Wahl bereit zu machen ist.
1. Kritik an digitalen Wahlen und Abstimmungen
Sowohl bei elektronischen, als auch bei Onlinewahl-und Abstimmungsprozessen in der eigenen Partei, als auch in Bezug auf den Einsatz von Online-Verfahren für Wahlen in den USA oder der Schweiz drehen sich die Diskussionen um deren Sicherheit. Kritiker*innen verweisen darauf, dass die Anfälligkeit für Manipulationen extrem hoch ist und eine Absicherung fast unmöglich ist. Im Regelfall ist der Quellcode der zur Anwendung kommenden Software nicht öffentlich einsehbar, was eine Untersuchung und kritische Prüfung durch ein Fachpublikum unmöglich macht. Teilweise wehren sich Anbieter*innen sogar gegen eine interne Überprüfung durch Dritte. Durch ständige Updates der Software selbst oder durch notwendige Updates der von der Software abhängigen Softwarebibliotheken würde eine einmalige Überprüfung durch Dritte auch deutlich zu kurz greifen.
Außerdem kann niemand garantieren, dass eine Wahl tatsächlich geheim stattfindet (die Behauptung des Betreibers ist dafür nicht ausreichend), niemand das Ergebnis oder die Software manipuliert hat oder tatsächlich exakt die Softwarevariante (Build) läuft wie vom Betreiber vorgegeben. Wir sollten unsere innerparteiliche Demokratie nicht privatisieren.
Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich daraus, dass es der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gebietet, dass die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung von Bürger*innen zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können. Das Bundesverfassungsgericht entschied im Jahr 2009, dies sei bei den Wahlcomputern, die bei der Bundestagswahl 2005 eingesetzt wurden, nicht der Fall. Analoge Wahlen hingegen, ob sie geheim oder öffentlich stattfinden, können neu ausgezählt werden. Die Durchführung ist zudem leicht verständlich (Kreuz auf die gewünschte Auswahlmöglichkeit), das Zustandekommen des Ergebnisses nachvollziehbar. Bei digitalen Wahlen, ob nun per Televotinggerät oder per Onlinesoftware, müssen wir uns darauf verlassen, dass den Programmierer*innen der Software keine Fehler unterlaufen sind oder nicht absichtlich eingebaut wurden.
Zwar werden innerhalb unserer Partei keine Abstimmungen und Wahlen getätigt, bei denen das Interesse einer Manipulation so hoch ist wie beispielsweise bei einer Bundestagswahl. Dennoch sind sowohl die vielfach zu recht kritisierte Online-Abstimmung, wie auch die elektronische Abstimmung bei Parteitagen in ihrem derzeitigen Einsatz problematisch.
2. Online-Abstimmung
Sowohl die Manipulationsanfälligkeit, als auch die mangelnde Nachvollziehbarkeit sind unserer Ansicht nach entscheidende Argumente, um ausschließlich die schriftliche Abstimmung zuzulassen. Die Integrität und Sicherheit unserer Wahlen sollten nicht aus Zeit- und Kostengründen geopfert werden.
Da man zu Onlineabstimmungen immer auch einen digitalen Meinungsbildungsprozess benötigt, um gewissenhafte Entscheidungen zu generieren, entstehen hier auch zusätzliche Kosten. Diese Kosten machen den Einsatz der Software auf Dauer nicht rentabel. Auch die Argumentation, durch die Online-Abstimmungen werde die Beteiligung erhöht, kann nicht belegt werden. Die Ergebnisse ähnlicher Abstimmungen, wie etwa jene der Landesverbände Brandenburg (KoaV ohne online: 58,91%) und Schleswig-Holstein (mit online 59,58%) oder auch der um den SPD-Vorsitz (mit online) 54,09% Beteiligung, lassen keine signifikante Steigerung erkennen (Vergleich zur Beteiligung an schriftlicher Urwahl der grünen Spitzenkandidat*innen zur BTW 2017: 59%).
3. Mitgliederabstimmung und Online-Abstimmung
Die Satzung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sieht in der Urabstimmung die Möglichkeit, dass alle Parteimitglieder über Themen abstimmen oder Personen wählen können. Von dieser Möglichkeit wurde zum Beispiel Gebrauch gemacht, als die Basis über die grünen Spitzenkandidat*innen zur Bundestagswahl 2017 entschieden hat. Das Urabstimmungsstatut enthält umfangreiche Regelungen darüber, wie viel Zeit zur Diskussion eingeräumt werden muss und wie der Abstimmungsprozess zu organisieren ist. So soll eine umfangreiche Beteiligung der Mitglieder und eine freie, gleiche und geheime Wahl stattfinden. Die Möglichkeit der Online-Abstimmung sieht das Urabstimmungsstatut nicht vor. Diskussionen auf Bundesebene dazu gibt es immer wieder, heftige Kritik am Verfahren hat eine Änderung des Urabstimmungsstatutes bislang verhindert. Auf Landesebene wurde das Urabstimmungsstatut und damit die Festsetzungen zur Wahl per Brief sowie zum Zeitraum der Stimmabgabe zum ersten Mal in Schleswig-Holstein umgangen. Für die Abstimmung der Mitglieder über den dortigen Jamaika-Koalitionsvertrag beschloss die Landesdelegiertenkonferenz 2017 die Durchführung einer Mitgliederabstimmung als Online-Abstimmung. Dieses Modell haben die sächsischen Grünen für die Abstimmung über den Kenia-Koalitionsvertrag übernommen. Die Problematik solcher „Mitgliederabstimmungen“ besteht darin, dass sie eine Parallelstruktur zur Urabstimmung schaffen, obwohl sie nicht in der Satzung verankert sind. Deren zur Absicherung einer freien, gleichen und geheimen Wahl getroffenen strengen Regeln werden so ausgehebelt.
4. Elektronische Wahlen und Abstimmungen auf Parteitagen
Eine andere Form der digitalen Abstimmung ist jene, die derzeit auf Parteitagen mithilfe von technischen Geräten von den Delegierten genutzt wird. Die derzeit eingesetzten Televotingsysteme arbeiten mit unverschlüsselten Funksignalen, über die die entsprechenden Abstimmungs- bzw. Wahlergebnisse gesendet werden. Dies ist insbesondere kritikwürdig, da die elektronischen Abstimmungsgeräte vor allem für Personenwahlen, als Ersatz für langwierige Stimmzettelwahlverfahren, eingesetzt werden. Die Geräte die derzeit auf grünen Parteitagen genutzt werden, sind eigentlich dafür gedacht, auf Konferenzen ein schnelles Stimmungsbild sichtbar zu machen und wurden nicht für geheime Personenwahlen konzipiert. Das derzeitige Fehlen tatsächlich geeigneter Geräte und das Wissen um die mangelnde technische Sicherheit des Verfahrens kann zu einer schwindenden Legitimation solcher Wahlverfahren führen und somit unserer innerparteilicher Demokratie schaden. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die enorme Zeitersparnis durch die Nutzung elektronischer Abstimmungsgeräte von Vorteil ist, da so in der begrenzten Zeit über mehrere Themen diskutiert werden kann. Die Kritik, die bereits seit Jahren aus verschiedenen Parteigremien auf Bundesebene an elektronischen Abstimmungen geäußert wird, sowie die Bildung einer Kommission zum Thema zeigt jedoch, dass die Unsicherheit der Abstimmungsgeräte kein Zustand sein sollte, den die Partei auf Dauer hinnehmen sollte.
Standards der Netzbegrünung:
Überprüfbarkeit des Ergebnisses bei gleichzeitiger Anonymität
Anforderung: Das eingesetzte System muss gewährleisten, dass ein Ergebnis transparent und überprüfbar zustande kommt und gleichzeitig die Anonymität der Wähler*innen wahrt. Begründung: Grundsätzliche Anforderung an ein freies, faires und demokratisches Wahlverfahren.
Offene Hardware
Anforderung: Die Baupläne der eingesetzten Hardware müssen frei verfügbar sein. Es muss nachvollziehbar sein, dass die eingesetzte Hardware tatsächlich den Plänen entspricht. Begründung: Offene Baupläne sind notwendige Voraussetzung für eine unabhängige Überprüfbarkeit der zugesagten Funktion.
Quelloffene Software
Anforderung: Der Quellcode der Software muss als Open Source frei zur Verfügung gestellt werden. Begründung: Offener Quellcode ist eine notwendige Voraussetzung für eine unabhängige Überprüfbarkeit der zugesagten Funktion.
Formale Verifikation
Anforderung: Sowohl die eingesetzte Software als auch die Hardware sollten formal in ihrer Funktionalität verifiziert sein. Begründung: Durch eine formale Verifikation wird gewährleistet, dass das System genau so funktioniert wie intendiert.
Vollständige Dokumentation
Anforderung: Alle eingesetzten Algorithmen, Funktionen, Hardware und Software müssen ausführlich dokumentiert sein. Begründung: Eine ausführliche Dokumentation erleichtert die Prüfung der offenen Hard- und Software, beziehungsweise der Funktionsweise des Gesamtsystems.
Reproduzierbare Builds
Anforderung: Der Quellcode muss reproduzierbar in Maschinensprache übersetzt werden. Begründung: Um sicher zu stellen, dass bei der Übersetzung des menschenlesbaren Quellcodes in Maschinencode keine Manipulationen stattfinden, muss das Ergebnis der Übersetzung überall reproduzierbar sein.
Sichere Aufbewahrung und Transport des Systems
Anforderung: Das eingesetzte System muss lückenlos und nachprüfbar sicher verwahrt werden. Begründung: Da eine vollständige technische Funktionsprüfung des Abstimmungssystems vor jedem Einsatz nicht möglich ist, muss das System nachvollziehbar vor Manipulation geschützt werden.
Herstellerunabhängigkeit
Anforderung: Das eingesetzte System muss auch ohne Unterstützung des Herstellers langfristig betrieben und weiterentwickelt werden können. Begründung: Beispielsweise im Falle einer Insolvenz des Herstellers muss ein Weiterbetrieb des Systems möglich sein.
Wartbarkeit und Nachhaltigkeit
Anforderung: Das System muss langfristig wartbar, sowie nachhaltig und fair produziert sein. Begründung: Entspricht den Grundsätzen der Partei.
Updates
Anforderung: Der Hersteller muss die Software auf dem aktuellen Stand der Technik halten. Begründung: Das Produkt muss über seine komplette Lebenszeit nutzbar bleiben, beispielsweise bei sich ändernden Standards (Funkfrequenzen, Schnittstellen).
IT-Qualitätsmangement des Herstellers
Anforderung: Der Hersteller muss einem anerkannten Prozess zur kontinuierlichen Verbesserung folgen. Begründung: Ein hochwertiges Produkt erfordert einen qualitätsbewussten Hersteller.
IT-Sicherheitsmanagement des Herstellers
Anforderung: Der Hersteller muss Sicherheitsprobleme innerhalb von 3 Monaten lösen. Der Hersteller muss uns über bekannte Sicherheitsprobleme unverzüglich informieren. Der Hersteller darf Meldungen zu Sicherheitsproblemen nicht ignorieren. Begründung: Das System muss sich so verhalten, wie es beschrieben ist. Falls Probleme auftreten, muss darauf reagiert werden können, beispielsweise indem die Nutzung des Systems zeitweise ausgesetzt wird.
Einsatz standardisierter, offener und validierter Verfahren
Anforderung: Der Hersteller muss offene, anerkannte und geprüfte Verfahren, Algorithmen und Bibliotheken einsetzten. Begründung: Da Software inhärent Fehler enthält, kann nur durch regelmäßige Reviews eine hohe Qualität gewährleistet werden.
Benutzer*innen-Freundlichkeit der Abstimmungsgeräte
Anforderung: Abstimmungsgeräte müssen für Nutzer*innen einfach handhabbar sein, der Abstimmungsverlauf und der Stand der Stimmabgabe müssen am Gerät klar erkennbar sein. Begründung: Eine komplizierte Handhabung (beispielsweise durch kleine Tasten) erschwert die Nutzung und kann zu Problemen bei der Stimmabgabe führen.